2020. Eigentlich hätte ich mich freuen sollen über dieses Jahr, konnte ich doch im Herbst 2019 meinen sechzigsten Geburtstag feiern und habe jetzt ein jährliches Ferienguthaben von 6 statt 5 Wochen! Eine Woche Ferien mehr gibt schon was her, wenn man gerne auf Reisen geht und entsprechend begann ich im Winter 2019/2020 mit der Reiseplanung für die warme Jahreszeit. Im Mai wollten wir zwei Wochen auf der Insel Zypern verbringen, um dort nach der Levanteotter (Macrovipera lebetina) und anderen Reptilien zu suchen. Im Juni hatte ich vor, in Norditalien der neu beschriebenen Walserviper (Vipera walser) einen Besuch abzustatten. In der ersten Oktoberhälfte war schliesslich eine zweiwöchige Reise nach Nordwestgriechenland geplant.
Doch dann kam die Pandemie und mit ihr die ganzen Reisebeschränkungen und weiteren Massnahmen. Was tun?
Nun ist die Schweiz ja nicht unbedingt das Eldorado für Reptilien-Aficionados. Klimatisch bedingt kommen in der Schweiz nur gerade 16 Reptilienarten vor. Besonders nördlich der Alpen sind heute zudem viele Gebiete zu dicht bevölkert und zersiedelt, um noch grössere Naturräume mit geeigneten Reptilienhabitaten beherbergen zu können. Etwas anders sieht es glücklicherweise (noch) in unseren Bergregionen und vor allem in den südlichen Gegenden unseres Landes wie dem Ticino (Tessin) aus.
Statt wie geplant teilweise in mediterranen Gefilden verbrachten wir 2020 somit insgesamt sechs Wochen Ferien in der Südschweiz. Ein schwacher Trost, wenn man in Gedanken bei Levanteottern, Harduns, Chamäleons, Landschildkröten und anderen ansprechenden Reptilienarten des Mittelmeerraums hängen bleibt. Anderseits war es äusserst interessant, während verschiedener Jahreszeiten Schlangen und Echsen in Gebieten im eigenen Land beobachten zu können, die auch nicht gerade um die Ecke liegen und die man sonst eher etwas vernachlässigt.
Im Folgenden einige Eindrücke von insgesamt vier Reisen ins Ticino während des Jahres 2020 (Mai, Juni, August, Oktober).
Bedingt durch seine geographische Lage und die verschiedenen Höhenstufen findet man im Ticino unterschiedlichste Landschaften auf kleinem Raum, von hochalpinen Bergregionen bis fast subtropischen Gegenden entlang der südlichen Alpenrandseen (Lago di Lugano, Lago Maggiore).
So vielfältig wie die Landschaften sind im Ticino auch die unterschiedlichen Reptilienhabitate, die insgesamt vier Echsen- und sieben Schlangenarten beherbergen.
Mit einer Gesamtlänge von manchmal knapp über 40 cm ist die westliche Smaragdeidechse (Lacerta b. bilineata) die grösste einheimische Eidechsenart. In der Schweiz beschränken sich ihre Vorkommen auf wärmebegünstigte Regionen wie die Südschweiz, Teile des Wallis und einige Gegenden in der Westschweiz. Im Frühling und Frühsommer zeigen vor allem die Männchen, in einigen Populationen auch die Weibchen blaugefärbte Kehlen und Kopfseiten. Während der Paarungszeit zeigen sich die Smaragdeidechsen oft wenig scheu und präsentieren sich gerne auch auf einem erhöhten Stein oder Baumstuppen.
2020 konnte ich im Ticino mehrere Individuen vom Mai bis Oktober jeweils an denselben Stellen wiederfinden, darunter auch ein Männchen, das ich erstmals im August 2018 gesehen hatte.
Mauereidechsen (Podarcis m. maculiventris) sind in der Südschweiz fast omnipräsent. Selbst in Ortschaften findet man diese Eidechsen, sofern auch nur ein Minium natürlicher oder naturnaher Strukturen vorhanden ist. Vom Talgrund bis in subalpine Regionen bewohnen Mauereidechsen in kleinerer oder grösserer Individuenzahl fast jeden möglichen Habitattyp. Selbst relativ feuchte Lebensräume werden in der Südschweiz von der Mauereidechse recht oft besiedelt.
Vor einigen Jahren wurden die Blindschleichen aus Gegenden südlich der Alpen und der italienischen Halbinsel von Anguis f. fragilis abgetrennt und gelten seither als eigenständige Art, die italienische Blindschleiche (Anguis veronensis).
Im Ticino kommen die folgenden Natterarten vor: Äskulapnatter (Zamenis longissimus), Zornnatter oder Karbonarschlange (Hierophis [viridiflavus] carbonarius), Schlingnatter (Coronella a. austriaca), Barrenringelnatter (Natrix h. helvetica) und Würfelnatter (Natrix t. tessellata).
Im Mai und Juni war die Äskulapnatter recht häufig anzutreffen, im Hochsommer entlang der Flüsse vor allem die Würfelnatter.
Im Tessin lebt regional in höheren Lagen die Kreuzotter (Vipera b. berus), die Aspisviper kommt in zwei Unterarten vor. Im Sottoceneri südlich des Flusses Ticino kommt die Rediviper (Vipera aspis francisciredi) vor, in den Tälern des Sopraceneri die Alpenviper (Vipera aspis "atra"), die seit einigen Jahren wieder der Nominatform Vipera aspis aspis zugeordnet wird.
Wie in anderen Gebieten zeigt die Alpenviper auch im Ticino eine unglaubliche Variabilität der Grundfärbung und Zeichnungsmuster. In einigen Tälern trifft man oft auf schwarze oder sehr dunkel gefärbte Individuen, während in anderen Talschaften nur wenige Kilometer entfernt ausschliesslich gemusterte Vipern anzutreffen sind.
Auch unter den Insekten gibt es im Ticino Arten, die man nördlich der Alpen nicht oder nur lokal begrenzt findet, so etwa die Gottesanbeterin (Mantis religiosa). Auffällig ist die ägyptische Wanderheuschrecke (Anacridium aegyptium), die sich aufgrund der Klimaerwärmung immer weiter nach Norden verbreitet und seit einigen Jahren auch im Tessin regelmässig angetroffen werden kann.
Reptilienhabitate sind meistens relativ naturbelassene oder naturnahe Gebiete und bieten deshalb auch einer Vielzahl von Pflanzen und Blumen Lebensraum. Im Frühling und Frühsommer blühen im Tessin viele Orchideen, Lilienarten und in höheren Lagen auch die Alpenrose.